Der Altar von St. Nikolai

Historisches

Unser Altar entstand zur Zeit der Renaissance auf Grund einer Stiftung des Grafen Rochus Guerini zu Lynar (1525–1596). Lynar war ursprünglich italienischer Katholik. Seine Vorfahren lassen sich bis ins 9. Jh. zurückverfolgen. Der Vater, Nachkomme der Reichsgrafen Guerini und Herr der Grafschaft Lynari in Oberitalien, war aus Blutrache vergiftet worden. Der Sohn war daraufhin geflohen und in Frankreich Festungsbaumeister geworden und dabei bis zum Generalinspekteur sämtlicher französischer Festungen aufgestiegen. Weil er inzwischen Protestant geworden war, musste er zur Zeit der Hugenottenverfolgungen (Bartholomäusnacht 1572) aus Frankreich fliehen. Er kam in verschiedene deutsche Territorialfürstentümer: In der Pfalz baute er das Heidelberger Schloss, für den Kurfürsten von Sachsen befestigte er die Residenzstadt Dresden und baute das Jagdschloss Augustusburg bei Chemnitz.
Auf Grund dieser Leistungen wurde er vom Kurfürsten Johann Georg von Brandenburg vor allem für die Planung und den Bau der Spandauer Zitadelle verpflichtet. Später wirkte er auch bei der Errichtung des Berliner Stadtschlosses mit. Von dem reichlichen Lohn kaufte Lynar in Spandau eine Reihe von Grundstücken, auf denen er sich ein eigenes „Stadtschloss“ errichtete.
In dieser Zeit stiftete der Graf St. Nikolai einen Altar mit einer darunter eingerichteten Begräbnisstätte für sich und seine Familie. Beides ist bis heute erhalten. Zu katholischer Zeit (vor 1539) hatte St. Nikolai 12 Altäre. Der Lynar-Altar wurde am 22. Oktober 1582 geweiht. Während des 2. Weltkrieges war er zum Schutz eingemauert.

Beschreibung

Unser Altar ist ein Epitaphaltar, d.h. er besteht aus der Mensa (Altartisch, 26) und dem Retabel (rückwärtiger Altaraufsatz), das als Epitaph (Gedächtnismal) gestaltet ist. Der Altar steht erhöht und ist über zwei Stufen erreichbar. Seine Architektur wird vom Prinzip der Dreigliedrigkeit bestimmt.
Der Altarraum wird von einer dreiteiligen Brüstung umschlossen, die mit zwei seitlichen Wangen rechtwinklig in den Kirchenraum hineinragt. Sie enden in quadratischen, emblemgeschmückten Postamenten neben den Altarstufen. Das Retabel ist sowohl vertikal als auch horizontal dreigliedrig konzipiert. Auch das Gesamtbild ergibt ein aufrecht stehendes Dreieck.
Der Altar besteht aus einem Backsteinkern mit Gipsaufsätzen, nimmt aber die traditionelle Form eines mittelalterlichen hölzernen Flügelaltars auf, bei dem die Seitenteile halb so breit wie der Mittelteil sind. Auch bei unserem Altar sind die Seitenteile im stumpfen Winkel nach vorne „geklappt“.
Weil der Altar in der Renaissance (Wiedergeburt der Antike) entstand, enthält er neben der damals neu entdeckten Zentralperpektive (wie auf dem Abendmahlsbild an den Fliesen erkennbar) viele griechisch-römische Elemente. An die Tempel der Antike erinnern die auffälligen, teilweise mit Texten versehenen Querverbindungen, die die „Stockwerke“ des Altaraufbaus voneinander trennen.

 

          


Die einzelnen Bilder (Halbreliefs) sind in der unteren Ebene jeweils durch Gold verzierte Pfeiler mit Menschen- und Löwenköpfen sowie mit gemusterten Bändern gerahmt (22–25).
In der zweiten Ebene flankieren die Figuren Fides (Glaube, 9) und Caritas (Liebe, 10) das Bild des Jüngsten Gerichts (8).
Neben dem Bild in der Mitte der zweiten Ebene stehen die von zwei Putten gehaltenen Wappen der Eheleute Lynar (11, 12) vor je einem großen Akanthusblatt, einem in der Spätrenaissance (Manierismus) und auch im Barock (s. Kanzel) sehr beliebten Motiv, ebenso wie die vielen schneckenförmigen Verzierungen, z.B. an den ionischen Kapitellen und den Rahmen der Wappen.
Auch die dritte Ebene ist dreigeteilt. Unten sitzen zwei Putten (6, 7) neben der Erdkugel, die zwischen Skelett und Drache (Tod und Teufel) schwebt (5). Darüber steht die Bundeslade (4) mit dem darauf liegenden Aaronstab (3).
Über allem sieht man in einer Mandorla (ovales Medaillon, (2)) Christus am Kreuz unter einer Taube (Heiliger Geist) und einem ellipsenförmig gerahmten Bild mit dem hebräischen Namen für „Gottvater“. Den oberen Abschluss bildet eine Krone. Sie verdeutlicht, dass der gekreuzigte Christus die Königsgewalt über die Welt hat (1).
Insgesamt versinnbildlicht der oberste Altarteil die Trinität (Dreieinigkeit).
Darunter symbolisieren der Aaronstab und die Bundeslade das Judentum nach dem Alten Testament (s. Mose 2-4).
Von unten nach oben gesehen sind hier drei Stadien der Weltgeschichte dargestellt: Zuunterst die heidnische Zeit mit der Weltherrschaft von Tod und Teufel (5), dann folgt nach dem ersten Eingreifen Gottes das Judentum (3, 4), und schließlich der Triumph des christlichen Glaubens (2).

Es entsprach viele Jahrhunderte der christlichen Auffassung, dass das Christentum über das Judentum triumphiert hat, und der alte Bund durch den neuen Bund abgelöst wurde. Erst nach der Mitschuld der Kirche an der Ausgrenzung und Vernichtung jüdischen Lebens durch den Nationalsozialismus begann sich eine neue theologische Sicht durchzusetzen: Heute glauben wir an die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes und dass wir durch den Juden Jesus in besonderer Weise an die Seite seines Volkes Israel gerufen sind.


Im Zentrum des Altars steht das Bild des Jüngsten Gerichts (8), in welchem die Wiederkunft Christi als Weltenrichter dargestellt ist.
In der unteren Hälfte vollzieht sich die Auferstehung und die Trennung in Selige und Verdammte. In der Mitte bekräftigt der Engel der Offenbarung mit erhobenem Zeigefinger, dass fortan keine Zeit mehr sein soll (Anbruch der Ewigkeit).
In der unteren Hälfte hilft auf der von Christus gesehen rechten Seite ein Engel den Gerechten bei der Auferstehung. Diese sammeln sich im Hintergrund und über den Wolken im Himmel bei Christus, der auf dem Regenbogen sitzt, dem alttestamentlichen Zeichen für den Bund zwischen Gott und den Menschen.
Auf der von Christus gesehen linken Seite schwingt der Sensenmann seine Sense und treibt die Verdammten dem höllischen Feuer zu.
Über dieser Szene schweben vier Engel in einem Wolkenband, von denen zwei mit Posaunen zum Gericht blasen.
Der auf dem Regenbogen sitzende Christus hat seine Rechte erhoben. Dort kniet betend Maria, zu seiner gesenkten Linken Johannes der Täufer. Elf Jünger verteilen sich rechts und links von Christus.
Die Figuren der Fides und der Caritas flankieren dieses Bild, da nach Luther die Auferstehung zum ewigen Leben nur durch Glaube und Liebe ermöglicht wird.
Unter dem Bild des Jüngsten Gerichts ist die Einsetzung des Heiligen Abendmahls dargestellt (13): An einem rechteckigen Tisch sitzen Jesus und die zwölf Jünger. Jesus mit Nimbus (Heiligenschein) und segnend erhobener rechter Hand sitzt in der Mitte hinter dem Tisch. An seiner Brust ruht Johannes. Der Jünger zu seiner Rechten trägt die Züge Martin Luthers, der zu seiner Linken die Melanchthons. Ihnen gegenüber sitzt Judas, der mit erhobener linker Hand Jesus meineidig Treue schwört, obwohl er ihn schon verraten hat und hinter seinem Rücken in der rechten Hand den Beutel mit den dafür erhaltenen 30 Silberlingen versteckt.
Das Abendmahlsbild wird gerahmt von zwei Bildern der Familie Lynar. Während sich die Stifter und Künstler des Mittelalters nur klein und am Rande darzustellen wagten, hat sich der höchst selbstbewusste Renaissance-Mensch Graf Lynar mit dem von ihm gestifteten Altar schon zu Lebzeiten zugleich auch ein Denkmal gesetzt. Das Persönliche tritt in den Vordergrund. Aus dem Geist jener Zeit heraus müssen wir verstehen, dass sich der Graf mit seiner Familie sogar größer darstellen lässt als Christus und die Jünger im Hauptbild.
Graf Lynar kannte zwar aus seiner Zeit in Frankreich die calvinistische Lehre, die Bilderwerk in der Kirche ablehnte und nur einen Altartisch, auf dem die Bibel liegen sollte, als Ausstattung erlaubte. Er setzte sich aber offensichtlich darüber hinweg, indem er die bildhafte Gestaltung seines Altars zuließ.
Im linken Seitenbild (14) knien der Graf († 1596) und hinter ihm seine beiden Söhne Johann Casimir († 1619) und Augustus († 1602), denn sie sollen dem Vater nachfolgen. Der Graf ist in seiner Rüstung dargestellt, links den Degen, rechts den Dolch, vor ihm der Helm mit dem großen Federbusch. Eiserne Handschuhe und Feldherrnstab kennzeichnen den hohen Offizier.
Im rechten Seitenbild (15) knien seine Gattin, die Gräfin Anne de Montot († 1585), und davor ihre Töchter, denn die Mutter soll sie im Auge behalten. Es sind dies Anna († 1595), Elisabeth († 1576) und Anna Sabina († 1623). Elisabeth war zwar schon sechs Jahre vor der Fertigstellung des Altars gestorben, ist aber dargestellt, als lebte sie noch.
Alle Personen blicken betend auf das Heilige Abendmahl, als nähmen sie selbst daran teil. Über jedem Familienbild steht, als Verbindung zum darüber angebrachten Wappen, eine persönliche Widmung (17, 18). Unter dem Abendmahlsbild wird noch extra auf die Stiftung des Altars hingewiesen (19).
Während diese drei personenbezogenen Texte in der Gelehrtensprache Latein (Übersetzung umseitig) stehen, sind drei weitere Texte – alles Bibelzitate – in unserer Muttersprache angebracht (16, 20, 21). Die Übersetzung der Bibel ins Deutsche ist ein reformatorisches Werk Martin Luthers.

Übersetzung der lateinischen Altarinschriften

Unter dem Abendmahl:
Dieser Altar ist aber errichtet und mit allen seinen Ausschmückungen fertig gestellt am 17. Juli im Jahre 1582 der Geburt unseres Herrn Jesus Christus durch die Jungfrau, dem Ehre und Lob und Ruhm in alle Ewigkeit gebührt. (19)

Über dem Bild des Grafen und seiner Söhne:
Der freigebige, edelmütige und berühmte Gebieter Herr Rochus Graf zu Lynar, den der allervornehmste Kurfürst der Mark Brandenburg und der Herzog von Sachsen in allen Angelegenheiten, die zur Freiheit und Unversehrtheit ihrer und der benachbarten Gebiete unternommen werden, als ersten Ratgeber ansehen, hat unter Einsatz seiner Güter dafür gesorgt und es erreicht, dass dieser Altar zur Ehre und zum Lobe des höchsten und größten Gottes errichtet worden ist. (17)

Über dem Bild der Gräfin und ihrer Töchter:
Die edle, freigebige und fromme Frau Anna, geborene von Montot, und Gräfin zu Lynar, Ehefrau des berühmten freigebigen und edlen Fürsten Herrn Grafen zu Lynar sowie dessen teuerste Töchter. (18)

Text: Hannelore Lietzke, Peter Lietzke, Sabine Müller, Rainer Paasch 2006 / 2020
kommentiert: AG Christen und Juden im Kirchenkreis Spandau, Gudrun, O'Daniel-Elmen 2022

 

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