Die spätgotische Triumphkreuzgruppe in St. Nikol ai

Vorbemerkungen

Unter einem Triumphkreuz versteht man ein Kruzifix (lat. crucifixus, der am Kreuz Befestigte), das auf einem Querbalken (Triumphbalken) zwischen Chor und Kirchenschiff aufgerichtet ist. Es trennte seit dem 11. Jahrhundert optisch den Raum zwischen Geistlichen und Laien wie ein Lettner (Trennwand). Die Bezeichnung eines Kruzifixes als Triumphkreuz stammt aus der Zeit, als man den unmittelbaren weltweiten Sieg des Christentums erwartete. Christus als Gottessohn und Triumphator über das Böse und den Tod wurde oft mit Krone und römischer Toga dargestellt. Seit dem Scheitern der Kreuzzüge wurde er mehr als leidender Mensch (Schmerzensmann mit Dornenkrone und Wundmalen) abgebildet. Im späten 15. Jh. gab es Bestrebungen, den Körper immer naturnaher zu gestalten. Zu einer Kreuzigungsgruppe gehörten ursprünglich nur Maria und Johannes. Im späten Mittelalter kamen weitere Figuren hinzu, z. B. römische Soldaten, Volk und Heilige. Dies kam auch in den Oster- und Passionsspielen zum Ausdruck.

Historisches

Nach dem Spandauer Chronisten D. F. Schulze, Pfarrer und Inspektor an St. Nikolai von 1762 bis 1811, wurde „das crucifix von Holz … 1540 gesezt“. Seit wann die Beifiguren der Maria und des Johannes vorhanden sind, berichtet er nicht. Sicher ist, dass das Kruzifix und die Beifiguren von verschiedenen Künstlern stammen, die still und ruhig stehenden Beifiguren eher noch früher als der etwas bewegter gestaltete Christus. Dazu passt, dass sie aus verschiedenen Hölzern geschnitzt wurden: die Figur des Gekreuzigten aus Lindenholz, die Beifiguren aus Esche. Die aktuelle Forschung geht davon aus, dass sie auf den Zeitraum 1480/90 zu datieren sind. Wo genau die einzelnen Figuren der Triumphkreuzgruppe hergestellt wurden, ist nicht gänzlich geklärt. Diskutiert wird insbesondere der kunsthandwerkliche Einfluss. Frühere Untersuchungen sahen hamburgisch-lübische Faktoren. Neuere Vergleiche von Kruzifixen aus Berlin und Brandenburg mit Triumphkreuzen aus dem fränkischen Raum lieferten zahlreiche Gemeinsamkeiten, so dass den damaligen Schnitzern das fränkische Kunsthandwerk bekannt gewesen sein könnte. Teilweise wird spekuliert, ob es sich bei dem Spandauer Kruzifix (ohne die Beifiguren) um einen Import aus Franken handelt. Wenn dies der Fall wäre, würde das Spandauer Kreuz das Vorbild für zwei Berliner Kruzifixe sein, welche auf einen etwas früheren Zeitraum zu datieren sind. Nach Schulze wurde das Kruzifix 1588, 1622 und 1722 renoviert. 1722 wurden im Rahmen einer allgemeinen Renovierung der Kirche auch die – folglich inzwischen vorhandenen – Seitenfiguren renoviert. Sie wurden abgenommen und in die Kirchenbibliothek verbracht, wo sie 1784, zur Zeit der ersten Fassung von Schulzes Chronik, noch standen. 1839 fand die nächste Renovierung unter der Leitung von K. F. Schinkel statt. Das Kruzifix befand sich in diesem Jahr hinter dem Altar. 1876 gelangten die beiden Seitenfiguren ins Märkische Museum in Berlin. Regierungsbauinspektor Otto Stiehl holte sie 1902 im Rahmen einer umfassenden Umgestaltung der Kirche wieder zurück und stellte sie auf einen aus vier Brettern neu zusammengefügten bemalten Triumphbalken an traditioneller Stelle wieder auf. Wie auch zu Schulzes Zeit wurde über dem Haupt Christi die gewöhnliche Überschrift „INRI“ angebracht. Er hing an einem farbig gestalteten Kreuz. Während des zweiten Weltkrieges, im März 1944, wurde die Gruppe in die Münze in Berlin ausgelagert, wodurch sie unversehrt erhalten blieb. 1947 kam sie nach Spandau zurück und wurde 1949 in einem ovalen Metallrahmen als provisorische Hängekonstruktion dort, wo einst der Triumphbalken war, aufgehängt. Nach langwierigen Diskussionen im Gemeindekirchenrat wurde die Gruppe dann 1959 in der Blendnische eines Fensters über der nördlichen Seitenkapelle aufgestellt. Damals erhielt der Gekreuzigte ein neues Kreuz aus Kiefernholz (4 m hoch, 2,7 m breit). Das Kruzifix steht jetzt auf einem kleinen Steinsockel, die Beifiguren stehen auf sehr niedrigen Bänkchen. Triumphbalken und Kreuzesüberschrift wurden weggelassen.

Beschreibung und Deutung

Als Erstes fällt die ungewöhnliche Anordnung (Maria links, Johannes rechts – von Christus aus gesehen) der Figuren auf, wie sie schon in der ersten vorhandenen Fotografie von 1903 zu sehen ist. Normalerweise steht Maria auf der ehrenvolleren rechten Seite Christi, Johannes links. Stünden sie aber in der traditionellen Weise, würden beide nicht zu ihm hoch, sondern wegschauen. Es wird deshalb vermutet, dass beide ursprünglich nicht als Beifiguren für ein Triumphkreuz geschaffen wurden, sondern als Einzelfiguren. Johannes entspricht dem traditionellen Bild als jüngster Jünger, bekleidet mit Untergewand und Mantel. Maria trägt ein über den Mantel fallendes Kopftuch, das sie auf eine für den norddeutschen Raum charakteristische Weise zusammenhält. Die Farben der Kleidungsstücke sind bei der letzten Restaurierung 1958/59 nach den ältesten festgestellten Farbresten wiederhergestellt worden. Die Farben der Seitenfiguren entsprechen sich: Maria trägt über einem roten Untergewand einen blauen Mantel, bei Johannes ist es umgekehrt. Marias gelbes Kopftuch ähnelt farblich dem vergoldeten Lendentuch des Gekreuzigten. Die Vergoldung des Lendentuches, in Spandau schon 1839 nachweisbar, war zwar nicht allgemein üblich, entsprach aber der alten Auffassung von Christus als Sieger über den Tod und Himmelsherrscher. Die Goldfarbe steht symbolisch für die göttliche Vollkommenheit und Ewigkeit. Maria ist fast immer blau gekleidet. Die Himmelsfarbe symbolisiert Reinheit, Wahrheit und Treue. Rot steht für Wärme und Liebe, weist aber auch auf den Opfertod Christi hin. Es gilt auch als Symbol der Macht (Würdenträger-Purpur). Die Beifiguren stehen fast unbeweglich aufrecht und zeigen wenig Mimik. Im Gegensatz dazu zeigt der Gekreuzigte deutlich die erlittenen Qualen durch den auf die rechte Seite niedergesunkenen Kopf mit schmerzverzerrtem Gesicht und weit geöffnetem Mund unter der aus einem Strick geflochtenen Dornenkrone. Der kraftlos im Bogen schwer herabhängende Körper mit der seitlichen Lanzenwunde deutet an, dass der Tod schon ein getreten ist. Die Größenverhältnisse (Seitenfiguren 1,85 m, Christus 2,60 m) und Standhöhen der Figuren entsprechen der Gewohnheit mittelalterlicher Künstler, dadurch die Wichtigkeit ihrer Figuren zu symbolisieren. Triumphkreuze sind ein uraltes sakrales Ausstattungselement katholischer Kirchen. Dass noch im Jahre 1540 ein solches in St. Nikolai Spandau verblieb, ist mit der gemäßigten Einführung der Reformation in der Mark Brandenburg zu erklären. Joachim II. war aus außenpolitischen und familiären Gründen um eine Annäherung der beiden Konfessionen bemüht. Deshalb waren in der neuen Kirchenordnung von 1540 noch einige altkirchlich-katholische Elemente enthalten.

Text: Peter Lietzke, Rainer Paasch 2008
Konrad Faustmann 2016

 

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